Neue Zürcher Zeitung vom 30.10.2006

Ein Wiener Demagoge Ťalla turcať

Mozarts «Entführung aus dem Serail» als west-östliche Travestie

Wien, Ende Oktober «Denn ein Mensch, der sich in einem so heftigen Zorn befindet, überschreitet alle Ordnung, Mass und Ziel, er kennt sich nicht - so muss sich auch die Musik nicht mehr kennen.» Mit diesen Worten beschrieb Mozart im Jahr 1781 den Haremswächter Osmin, den eigentlichen Bösewicht in «Die Entführung aus dem Serail». Das Wiener Schauspielhaus, bekannt für seine intellektuellen und mitunter höchst eigenwilligen Produktionen, hat unter dem Titel «Saray» eine politisch brisante Interpretation von Mozarts barockem Singspiel auf die Bühne gebracht: Nicht die Wiener Lust am Türkisch-Exotischen nach überwundener Türkenbelagerung und der Erleichterung nach all den ausgestanden Ängsten wie zur Zeit der Entstehung der Oper steht hier im Vordergrund, sondern das tagespolitisch höchst kontroverse Thema Integration und Einwanderung. - «Wien darf nicht Istanbul werden» und «Daham (daheim) statt Islam»: Mit derart kruden Sprüchen auf seinen Wahlplakaten hat der Chef der rechtsradikalen FPÖ, Heinz-Christian Strache, in den Wiener Gemeindewahlen vor einem Jahr fast 15 Prozent und in den jüngsten Nationalratswahlen über 11 Prozent der Wählerstimmen errungen.

Xenophobie, Fremdenangst und Unverständnis gegenüber dem Andersartigen sind die Kehrseite der sich mehr denn je kosmopolitisch gebenden Donaumetropole, davon kann hier mancher mit dunkler Hautfarbe oder in exotischer Kleidung sein Lied singen. In «Saray», einer Koproduktion des Wiener Schauspielhauses mit dem Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg und Het Toneelhuis Antwerpen im Rahmen des Mozartjahrs 2006, werden die Identitäten vertauscht, wird die Perspektive versuchsweise auf den Kopf gestellt, in gleichsam barocker Verspieltheit, doch auf einer un-barock leeren Bühne: Die beiden europäischen Paare werden von (übrigens hervorragenden) türkischen Sängerinnen und Sängern verkörpert, und sie singen die Mozart-Arien in türkischer Sprache.

Der Bass Osmin hingegen, der lustvoll-hasserfüllt sämtliche Hinrichtungsarten aufzählt, die er sich genüsslich für die Fremdlinge ausmalt, wird in dieser Inszenierung zum Europäer - und er tritt auf, agiert und spricht wie der Demagoge Strache. Auf die Frage Pedrillos, warum er ihn denn erdrosseln wolle, lautet im Text der Mozart- Oper die bezeichnende Antwort des vorurteilsbeladenen Rassisten Osmin: «Weil ich dich nicht leiden kann.» Und warum nicht? «Du hast ein Galgengesicht - das ist genug.»

Unter der Regie von Ibrahim Quraishi hat Serdar Yalcin Mozarts Partitur teilweise für traditionelle türkische Instrumente umgeschrieben, die er zusammen mit Klavier und europäischen Instrumenten einsetzt. Im Orchester widerspiegelt sich somit das Rollenspiel auf der Bühne: Die Musik Mozarts klingt, mit den türkischen Instrumenten interpretiert, ebenso exotisch, wie damals für Mozarts Zeitgenossen der Janitscharenmarsch getönt haben muss, wo Tschinellen, Rasseln und andere Instrumente den gewünschten fremdländischen Effekt «alla turca» erzeugten.

Und all dies funktioniert heute nicht weniger als damals: Es hat den spannungsgeladenen Reiz der Ambivalenz zwischen angstbesetzter Ablehnung und prickelnder Anziehung. Mozart hatte sein Singspiel in der Ära des Reformkaisers Joseph II. geschrieben; das berühmte «Toleranzpatent» mit der Verringerung der Zensurvorschriften und mehr Glaubensfreiheit fiel just in das Entstehungsjahr des Stücks, 1781. Die Schlüsselfigur des vom Christentum zum Islam konvertierten Bassa Selim, dem aufklärerische Ideen von Toleranz und Überwindung der Rache in den Mund gelegt wurden, war wohl eine Verbeugung Mozarts vor dem relativ liberalen Herrscher. Die verblüffenden Effekte dieser Inszenierung, der west-östliche Rollentausch von handelnden Figuren, Musikstücken und Instrumenten, schaffen gerade vor dem Hintergrund des österreichischen Wahlkampfes und vor dem Hintergrund der islamisch-christlichen Spannungen Nachdenklichkeit, produzieren Erkenntnis. Hier bilden weniger die weisen Worte des Bassa die Botschaft der Toleranz, es ist die Inszenierung selbst. Allerdings sitzen im Publikum dieses Theaters zumeist solche, die diese Botschaft längst zu ihrem Anliegen gemacht haben.

Das Gegenstück war im Sommer als Freilichtaufführung auf der Burgruine Reinsberg mit dem niederösterreichischen Tonkünstler-Orchester zu sehen: Es waren die Tage des Libanon-Krieges, und der Regisseur Michael Kraus siedelte seine «Entführung» sinnigerweise vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts an. Brutale Terroristen mit Palästinensertüchern und Spielzeuggewehren hielten ihre europäischen Gefangenen in Schach, und Belmonte war hier nur ein Deckname für Schönberg. Denn Belmonte war in dieser Inszenierung nicht Spanier und nicht der Sohn des Kommandanten von Oran, sondern der Spross eines israelischen Generals namens Mosche Schönberg. Hier allerdings stellte das Bemühen um aktuelle Bezüge die edle Botschaft dieses Werkes in den Schatten.